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Interview mit Julian Troltenier

Interview mit Julian Troltenier | Sonderschullehrer & Gründer von Autpib

Wir freuen uns, dir heute ein exklusives Interview mit Julian Troltenier auf ElternErfolg präsentieren zu können. Julian wurde 1988 in Marburg an der Lahn geboren und ist nicht nur Sonderschullehrer für Autismus, sondern auch Gründer von „Autpib“. Mit Auslandserfahrungen in Kanada und einer großen Leidenschaft für das Thema Autismus, bringt Julian ganz besondere Erfahrungen und Perspektiven mit. In unserem Gespräch erfährst du mehr über seinen Werdegang, seine Erfahrungen und seine Visionen für die Zukunft.


Interview mit Julian Troltenier

Hallo Julian, vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview nimmst. Dein beeindruckender Werdegang im Bereich Autismus bietet sicher viele spannende Einblicke.

Wie hat dein Engagement im Bereich Autismus begonnen? Gab es ein einschneidendes Erlebnis, das deinen Weg in diese Richtung gelenkt hat?

Mein Interesse für den Bereich Förderung von autistischen Personen hat sich nach und nach entwickelt. Zunächst habe ich, in Kanada, erwachsene Personen mit Behinderung im Wohnbereich unterstützt und gemeinsam den Alltag gestaltet, dort habe ich auch einige autistische Personen begleitet. Während meines Bachelor-Studiums habe ich durch eine Freiwilligentätigkeit und diverse Praktika Einblicke in die Bereiche Wohnen, Arbeit und Freizeit bekommen. In diesen Settings hatte ich auch immer wieder mit autistischen Personen zu tun.

Was sind Autismus-Spektrum-Störungen (ASS): Definition

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind komplexe neurologische Entwicklungsstörungen, die sich auf die sozialen Fähigkeiten, die Kommunikation, die Interessen und das Verhalten einer Person auswirken. Die genauen Ursachen von ASS sind noch nicht vollständig erforscht, aber sowohl genetische als auch Umweltfaktoren spielen eine Rolle.

Menschen mit ASS können Schwierigkeiten haben, soziale Hinweise oder nonverbale Kommunikationssignale zu verstehen. Sie können auch sich wiederholende Verhaltensweisen zeigen oder ein sehr fokussiertes Interesse an bestimmten Themen haben. Die Ausprägung dieser Merkmale ist individuell sehr unterschiedlich. Einige Menschen mit ASS benötigen viel Unterstützung im Alltag, während andere selbstständig und unabhängig sind.

Es ist wichtig zu betonen, dass ASS nicht durch Erziehung oder soziale Umstände verursacht wird und dass Menschen mit ASS ein ebenso erfülltes Leben führen können wie andere, auch wenn sie manchmal besondere Unterstützung oder Anpassungen benötigen.

Als ich für mein Masterstudium nach Graz gezogen bin, habe ich mir einen Job in der Familienentlastung und Wohnassistenz bei der Mosaik GmbH Graz gesucht, ursprünglich war meine Absicht weiterhin mit erwachsenen Personen mit Behinderung zu arbeiten. Die Arbeit mit Kindern konnte ich mir weniger vorstellen, allerdings haben mein damaliger Chef und mein Teamleiter dies anders gesehen und so habe ich dann auch einige Kinder mit Behinderung betreut, unter anderem auch ein autistisches Kind. Die Welt dieses Kindes zu verstehen hat mich sehr fasziniert und so habe ich meinen Chef gebeten, die Betreuung weiterer autistischer Kinder übernehmen zu dürfen. Ab diesem Zeitpunkt war mein Fokus hauptsächlich auf Autismus, die Mosaik GmbH hat mir auch eine autismusspezifische Fortbildung namens „Universitätslehrgang Trainer*in für Menschen mit ASS“ ermöglicht.

Mittlerweile schaut mein Berufsfeld etwas anders aus und trotzdem ist es nach wie vor die Arbeit mit autistischen Personen, die mir sehr viel Freude in meinem Beruf bereiten.


Aus meiner Sicht kann daher aktuell in beiden Bildungssystemen nicht von Inklusion gesprochen werden.

– Julian Troltenier

Auf Instagram heißt du „Autpib“, kannst du uns etwas zu dem Namen erzählen?

Der Name „Autpib“ steht für Autismus – Pädagogik und Beratung. Ich habe gemerkt, dass Instagram eine tolle Plattform ist, um sich international zu vernetzen, auszutauschen und auch mein eigenes Fachwissen in Beratungen anzubieten. Ich will eine positive Sicht auf Autismus mit meinen Beiträgen unterstützen, zusätzlich bietet sich die Möglichkeit, spontan und schnell Hilfe für Fragestellungen rund um Autismus anzubieten.

Interview mit Julian Troltenier

In deiner täglichen Arbeit in Österreich arbeitest du eng mit Menschen mit Autismus-Spektrum Störungen (ASS) zusammen. Welchen besonderen Herausforderungen begegnest du dabei regelmäßig und wie meisterst du diese?

Die autistische Wahrnehmung und die daraus resultierenden Bedürfnisse zu verstehen ist nicht immer einfach. Manchmal fällt es einer Person schwer, selbst zu wissen, was sie stört und manchmal versteht das Umfeld die Bedürfnisse nicht, das sind nicht unbedingt Herausforderungen die regelmäßig auftreten, aber sie können doch eine große Herausforderung darstellen. Ich denke es sind auch oft die Wertigkeiten von Situationen und Handlungen zum Beispiel fällt es mir leicht, eine Pausensituation zu verlassen und mit dem Unterricht weiterzumachen.

Für meinen Schüler dagegen könnte es eine große Herausforderung sein, mit dem Unterricht weiterzumachen, wenn das Puzzle noch nicht fertig ist. Daher versuche ich mir ein Verständnis für die autistische Welt anzueignen und dies an meine neurotypischen, also nicht autistischen, Mitmenschen weiterzugeben.

Pädagogische Ansätze wie TEACCH und unterstützte Kommunikation sind in der Förderung von Menschen mit ASS in Deutschland und Österreich weit verbreitet. Wie integrierst du diese Methoden in deinen Unterricht und in deine tägliche Arbeit?

Für viele autistische Personen ist eine gewisse Strukturierung wichtig, um sich in der Welt zurechtzufinden. Der TEACCH Ansatz bietet Möglichkeiten wie Raum, Zeit und Lernmaterial autismusfreundlich strukturiert werden kann, zum Beispiel kann der Tagesablauf in Form von Bildkarten dargestellt werden oder das Klassenzimmer anhand von Bodenmarkierungen in verschiedene Bereiche wie Lern- und Pausenbereich unterteilt werden.

Bei der Unterstützten Kommunikation habe ich selbst auch noch sehr viel zu lernen. Prinzipiell geht es darum Wege der Kommunikation zu finden für Personen, denen Lautsprache schwerfällt, daher versuche ich viele Gebärden und Bildkarten in meinen Berufsalltag zu integrieren und parallel zur Lautsprache zu verwenden.

Was bedeutet TEACCH?
TEACCH steht für „Treatment and Education of Autistic and related Communication-handicapped Children“. Es ist ein strukturierter Ansatz zur Förderung von Menschen mit Autismus, der auf die individuellen Bedürfnisse eingeht.

Wie schätzt du den aktuellen Stand der Inklusion von Menschen mit ASS im österreichischen und deutschen Bildungssystem ein?

Die Umsetzung der Inklusion ist leider nach wie vor ein Fernziel sowohl in Österreich als auch in Deutschland. Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde in Österreich 2008 und in Deutschland 2009 ratifiziert und trotzdem hat der Monitoringausschuss in der UN Staatenprüfung in diesem Jahr in beiden Ländern noch eklatante Mängel und teilweise rückwärtige Entwicklungen festgestellt. Aus meiner Sicht kann daher aktuell in beiden Bildungssystemen nicht von Inklusion gesprochen werden.

Schule muss sich an die Kinder anpassen, dann können auch autistische Personen vollwertig am Unterricht teilhaben. In der Regelschule wie sie gerade abläuft müssen autistische Personen leider extrem resilient sein, um erfolgreich zu sein.

Ab wann wird eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert und was sind erste Anzeichen?

Erste Auffälligkeiten lassen sich meist mit etwa 3 Jahren erkennen. In vielen, aber nicht allen, Fällen ist es so, dass das Kind bis zu diesem Zeitpunkt bereits einige Wörter gesprochen hat und es diese Wörter auf einmal nicht mehr spricht, daher sind viele Eltern besorgt und suchen eine/n Arzt*in auf.

Es ist mir wichtig zu sagen, dass die Annahme, Impfungen würden Autismus auslösen nicht bestätigt sind. Es wurde also kein Zusammenhang gefunden, dies ist allerdings nach wie vor eine weit verbreitete Annahme. Weitere Anzeichen können u.a. typische Stereotypien sein wie das „Flattern“ der Hände oder ein für neurotypische Menschen ungewöhnliches Spielverhalten sein zum Beispiel wird ein Spielzeugauto nicht funktional wie ein fahrendes Auto gespielt sondern einfach umgedreht und an den Reifen gedreht. Das Essverhalten kann ebenso auf wenige Lebensmittel begrenzt sein. Auf Soziales Lächeln, also mein Gegenüber lächelt und ich lächele zurück, wird nicht reagiert. Bei Kindern die zu diesem Zeitpunkt nach wie vor sprechen, kann eine einseitige Kommunikation und teilweise abstrakte Wörter festgestellt werden.

Bei all diesen Anzeichen sollte allerdings vorsichtig gehandelt werden, diese können auftreten, müssen es aber nicht zwangsläufig. Ich empfehle bei Verdacht von Autismus, bitte eine professionelle Diagnostik durchführen lassen. Selbst im professionellen Setting kommt es ab und zu zu Fehlern, daher finde ich den Austausch mit Eltern und Fachkräften extrem wichtig.

Welche Empfehlungen würdest du Eltern geben, bei deren Kind kürzlich eine Autismus-Spektrum Störung diagnostiziert wurde?

Viele Eltern, mit denen ich beruflich in Kontakt stehe oder gestanden habe, sind nach der Autismus Diagnose ihres Kinders im ersten Moment sehr verunsichert. Ärztinnen sind leider in einigen Fällen nicht sehr sensibel und gehen sehr defizitär mit Behinderung um.

Daher halte ich es für wichtig, dass Eltern merken, sie sind nicht allein. Es bieten sich diverse Vernetzungsmöglichkeiten auf Facebook und Instagram, dort werden zahlreiche Fragen beantwortet rund um Themen wie was passiert nach der Diagnose, Betreuungsmöglichkeiten, KiGa/ Schule/ Job, Pflegegeld, autismusfreundliche Arztinnen und vieles mehr. Es gibt auch einige sehr kompetente Expertinnen auf Instagram bei denen man Beratungsstunden buchen kann. Hilfreich kann auch sein, dass man mit dem Autismuskompetenzzentrum vor Ort Kontakt aufnimmt, die können meist auch gute Empfehlungen geben.

Zu Beginn einer Diagnose wird oft eine autismusspezifische Therapie empfohlen, diese kann auch durchaus sinnvoll sein, allerdings ist es mir wichtig zu sagen, dass die ein/e Therapeutin sein sollte, mit denen die Erziehungsberechtigten und vor allem das Kind gut auskommt.

Dein Studium der Inklusiven Pädagogik in Österreich hat dir sicher theoretisches Wissen und praktische Ansätze zum Umgang mit Autismus vermittelt. Wie setzt du dieses Wissen konkret in deiner täglichen Arbeit um und welche Methoden haben sich als besonders effektiv erwiesen?

In meinem Studium habe ich einige Ansätze der Intervention und Förderung von Menschen mit diversen Behinderungen kennenlernen dürfen. Auch der TEACCH Ansatz, den ich vorhin erwähnt habe, hat dort eine Rolle gespielt, daneben auch die Verhaltenstherapie bzw. Applied Behavior Analysis, diese lehne ich allerdings ab, weil sie in meinen Augen die Bedürfnisse von autistischen Personen zu wenig berücksichtigt.

Die Inklusive Pädagogik behandelt ebenso die Diagnose Instrumente, welche z.B. für eine Autismus Diagnostik angewendet werden. Ich selbst darf die Diagnostik nicht durchführen, aber ich finde es dennoch hilfreich zu wissen, wie dies korrekt durchgeführt werden sollte.

Welche Visionen oder Projekte verfolgst du derzeit im Bereich der autismusspezifischen Förderung und welche Entwicklungen erhoffst du dir für die Zukunft?

Aktuell ist neben meiner beruflichen Aktivität als Sonderschullehrer in einer Kleinklasse nur geringe Kapazität für weitere Projekte, da stehen meine Schülerinnen im Mittelpunkt.

Die kleine Extrazeit möchte ich gerne in meinen Instagram Account „AUTPIB“ legen, dabei ist mein Ziel mich im Bereich Autismus mit Menschen zu vernetzen, die eine positive Sicht auf Autismus haben und meine Expertise zu teilen. Instagram bietet mir die Möglichkeit mich international mit Fachkräften verschiedener Berufe, Erziehungsberechtigten und Autistinnen auszutauschen, dafür bin ich sehr dankbar.

Ich erhoffe mir für die Zukunft, dass die Schule sich verändert und sensibler wird für autistische Bedürfnisse, spontan fällt mir da ein, kleinere Klassen, wenige Raumwechsel und die Möglichkeit einer ruhigen, reizarmen Pausenzeit, dazu wäre Sensibilisierung der Mitschülerinnen wichtig, dann auch autistische Schülerinnen wollen dazugehören und meist nicht die Eigenbrödler*innen, wie sie gerne in Film und Fernsehen dargestellt werden. Für einen besseren Einblick kann ich hier den Film Wochenendrebellen* empfehlen, der ist toll.

Stilvolle Schrift

Wir danken dir für das interessante und aufschlussreiche Interview und die wertvolle Arbeit, die du leistest!

Dein ElternErfolg-Team


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